dritte Woche 1

Offenbar wurde der letzte Beitrag gelesen, obwohl er noch nicht fertig war. Ich hätte nicht gedacht, wie schwierig es ist, wenn man immer irgendwie eingebunden ist, etwas aufzuschreiben, ich jedenfalls bin sehr von der Umgebung ablenkbar und kann dann keinen Gedanken fassen. Ich habe dann etwas zur Sicherheit hochgeladen, weil ich mein IPad-Programm komplett gelöscht habe und nun online schreibe, was aber wesentlich umständlicher ist.

Es gibt noch etwas von dem Tag, an dem wir ins Reservat gefahren sind, zu berichten. Deshalb, weil es so im Kontrast zum vorherigen Tag steht und wohl eine grundsätzliche Entscheidung, wie man hier lebt, betrifft. Wir waren  von dem Ausflug so früh zurückgekommen, dass ich Sue noch in der Schule antraf und von ihr mitgenommen wurde. Zuhause lud sie mich zu einem Spaziergang ein, das ist etwas, was sie jeden Tag macht, in der letzten Zeit aber kaum dazu gekommen ist, weil sie so viel um die Ohren hat. Ich hatte von meiner Begeisterung für die Hochhauswohnung ihrer Kollegin mitten in der Kulturszene Melbournes gesprochen, die sie auch kennt. Was wir nach 5 Minuten Fußweg erreichten, war genau das Gegenteil davon: eine Parklandschaft mit Naturschutzgebiet und Vogelinsel, ein Ort der Ruhe und Entspannung fernab von jeder Hektik, wenn man einmal von den paar Joggern, die uns begegneten, absieht. img_3115img_3116
 Sie hat die Entscheidung für diese Alternative getroffen, muss aber den weiten Weg in die Stadt in Kauf nehmen. Ich brauche fast genauso viel Zeit von meinem Haus in Marburg in die Frankfurter Oper wie hier in Melbourne von Sue zum hiesigen Opernhaus, insofern neige ich ihrer Alternative wohl doch eher zu, auch wenn mich die langen Fahrzeiten nerven.  Mich verführt diese Distanz zu Bequemlichkeit, und allzu oft bleibe ich in Deutschland vor dem Fernseher sitzen, anstatt in ein Konzert oder die Oper zu gehen. Die Frage ist, wie man Lebensqualität definiert, für mich gehören Fahrtzeiten nicht dazu, dieser Begriff scheint aber in Australien zwangsläufig anders verstanden zu werden. Einigen Deutschen, mit denen ich sprach, sind sie aber auch zu weit.

Anschließend fuhren wir zu Sues Freund, der Pizza für uns gemacht hatte. Er empfing uns mit Sgt.Peppers Lonely Hearts Club Band, und nachdem ich auf weitere alte Popmusik zu sprechen kam, führte er mir Jimmy Hendrix, Cream und Blind Faith vor, alles Bands, die ich in meiner Jugend auch gehört hatte. Wir kamen auf alte Zeiten zu sprechen und unsere Haschisch-Erfahrungen, die in vieler Hinsicht ganz ähnlich waren wie auch unsere Ansichten, sodass ich in der Gesellschaft mit Sue und Simon nicht das Gefühl habe, in eine andere Kultur zu kommen, was aber definitiv der Fall ist, davon aber noch später.

Am Samstag war schönes Wetter und ich verbrachte den ganzen Tag in Melbourne, ging noch mal in die Staatsgalerie, wo ich einiges noch nicht gesehen hatte. Anschließend schlenderte ich planlos durch die Innenstadt, fuhr mit der Straßenbahn einmal drumherum und lauschte den touristischen Erläuterungen, die über den Lautsprecher kamen. Irgendwie hatte ich mitbekommen, dass am Abend das Youthorchestra of Victoria ein Konzert gebe, zu dem ich mich kurzerhand entschloss. Mir war nicht ganz klar, was mich erwartete, dachte, es handele sich um ein klassisches Programm, weil ich die Namen Tschaikowsky und Bernstein gelesen hatte. Die konnte man zwar zwischendurch raushören, aber es waren insgesamt Arrangements, die eingebunden waren in eine zentrale Jazzcombo, die weite Phasen improvisatorisch gestaltete, unterstützt von einer großen Schlagwerk- und Blechbläsergruppe, während die Streicher in der Minderzahl waren und gelegentlich als „Sahnehäubchen“ zu hören waren. Junge Komponisten aus Melbourne, die auch unter den ausführenden Musikern waren, hatten die Stücke komponiert, und es muss wohl eine sehr knifflige Aufgabe für die Dirigentin gewesen sein, die verschiedenen musikalischen Elemente unter einen Hut zu bekommen, was ich manchmal, wenn die Gestik überhaupt nicht mit dem Gehörten übereinstimmte, nicht nachvollziehen konnte. Über weite Strecken aber waren die Instrumentalisten für den Zuhörer optisch wie akustisch überaus präzise, ein Zeichen dafür, dass diese Musik sehr genau notiert war.

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In der Nacht träumte ich von einem Treffen mit Kollegen meiner ersten Schule, bei dem ich ihnen berichtete, dass ich gestern Abend in einem Konzert in Melbourne gewesen sei, was ja eigentlich gar nicht sein könne, weil Melbourne auf der anderen Seite der Erde liege und ich mich jetzt folglich in einem Traum befinden müsse. Ich hatte früher einmal davon gelesen, dass man ein Bewusstsein davon, sich im Traum zu befinden, entwickeln könne und dass besonders Sportler diese Fähigkeit benutzen, um sich auf Höchstleistungen vorzubereiten. Vielleicht ist das ja der Anfang einer Entwicklung, die es mir ermöglicht, mich so zu konzentrieren, dass ich auch demnächst in einem Hauskonzert eine musikalische Höchstleistung vollbringe, schön für mich und entlastend für die Zuhörer wäre es jedenfalls.