dritte Woche 5

Donnerstag und Freitag tauchte ich wieder in die Welt der Schule ein, nicht unbedingt glücklich dabei, aber mitgegangen – mitgefangen. Es fing schon am Mittwoch Abend nach unserer Rückkehr an. Angelika, die am weitesten von der Schule wegwohnte, hatte den Fahrer gebeten, sie ein Stück mitzunehmen, ich hielt die Stellung bis zum Eintreffen der abholenden Eltern. Alle kamen recht zügig bis auf zwei. Ein Junge war so dusselig, nicht frühzeitig Bescheid zu sagen und fing erst damit an, als wir schon ausgestiegen waren, was mich ziemlich ärgerte, weil auch ich erschöpft war, ein Mädchen hatte keine Austauschpartnerin, weil diese in dem Zeitraum gar nicht an der Schule sondern in einem besonderen Camp war, und deren Mutter war offenbar zu beschäftigt, um sie abzuholen, eigentlich ein unhaltbarer Zustand. Das Mädchen hatte den ganzen Aufenthalt hindurch die ungünstige Situation aufgrund ihrer hohen Intelligenz und einem Bewusstsein, alles mit dem eigenen Willen zu bewältigen, durchgehalten und das Angebot, von einem ihr fremden Privatwagen durch Uber abgeholt zu werden, ausgeschlagen, was ich nicht wusste, und sagte zu mir nur, sie fahre mit der Bahn, das habe sie schon oft so gemacht. Dazu musste sie aber auch noch ein Stück laufen, was ich ihr wenigstens abnehmen wollte mit Hilfe von Sue, die dazukam. Auch das lehnte sie ab und ging los, kam aber nach kurzer Zeit wieder zurück, weil die Abkürzung, die sie gehen wollte, abends gesperrt war. Auch jetzt ließ sie sich nicht abhalten, sondern lehnte jede Hilfe ab. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, ließ sie aber gehen. Am nächsten Morgen kam sie in die Schule und wollte mit Angelika sprechen. In der Bahn war sie offenbar von einem Mann belästigt worden, und das hatte wohl das Fass der Selbstbeherrschung zum Überlaufen gebracht. Sie schrieb an ihre Eltern, die Gastmutter hatte ein schlechtes Gewissen, einiges hatte sich bereits unter den anderen Eltern herumgesprochen und Angelika verbrachte mehrere Stunden damit, alles wieder ins Lot zu bringen für das abschließende Treffen der Gastgeber und Austauschpartner am Freitag Abend. Die Diplomatie und das Geschick dafür hätte ich niemals aufgebracht. Damit war Angelika Donnerstag Vormittag aber auch zur Vorbereitung der sogenannten Assembly ausgefallen, zu der wir die Schüler morgens zusammengerufen hatten. Auf Sue’s Wunsch sollten die Schüler ja etwas vorführen, etwa ein Lied, und sie hatten sich schon in Deutschland „Applaus,Applaus“ einer mir unbekannten Popgruppe ausgesucht, eines dieser Pipi-Liedchen, wie ich sie gar nicht mag und auch für eine Präsentation nicht unbedingt sinnvoll finde. Als Kontrapunkt hatte ich den Lutherchoral „Ein feste Burg“ ausgesucht in der originalen Notation, die rhythmisch außerordentlich interessant, mit ihren Synkopen ja geradezu modern wirkt. Gedanke dabei war auch, auf die Herkunft der Schule aus der Reformation hinzuweisen, wir haben nächstes Jahr Lutherjahr und die Schule hat 1527 ihren 500. Geburtstag, Wesley feiert gerade seinen 150. Nett verpackt mit ein paar Informationen über das Philippinum und Marburg wäre das eine sehr gute Werbung für uns gewesen, wie das Sue, die um die Stellung des Deutschunterrichts an ihrer Schule etwas besorgt ist, sicher gut zupass gekommen wäre. Ich spreche im Irrealis, weil die Sache wohl nur geklappt hätte, wenn ich mich frühzeitig selbst eingeklinkt hätte. Aber die Schüler hatten schon in Marburg an dem Lied herumgemault und ich sah keine Veranlassung mehr hier irgendwie einzugreifen, sondern ließ die Sache laufen im Vertrauen darauf, dass unsere Schüler schon irgendetwas Interessantes zusammenbrächten, wie eine Präsentation, die ich vor ein paar Jahren von japanischen Schülern gesehen hatte, die Informationen über ihre Stadt in ein witziges Quiz verpackt hatten. In Wesley hatten Japaner im vorhergehenden Jahr einen Tanz aufgeführt. Nun griffen die Schüler aber auf ihre, wie sie selbst schon im Voraus sagten, stinklangweiligen Präsentationen über Marburg zurück. Angelika kam später wieder dazu und bot den Schülern an, hier noch einzugreifen, und sie hätte aus dem Stegreif etwas Passables und Witziges formuliert, aber sie waren völlig beratungsresistent und strichen aus Zeitgründen sogar noch die Informationen über das Philippinum. Wir überließen sie dann ihren Vorbereitungen und gingen ins Lehrerzimmer, das sich plötzlich immer mehr füllte und offenbar der Ort einer Gesamtkonferenz in der großen Pause war. Die oberste Chefin der Schule, die zwei Standorte hat, erschien und würdigte den Schuldirektor unseres Campus. Er hatte wohl als Grundschullehrer angefangen und es in über zwanzigjähriger Arbeit hier bis zum Head of Campus, also zum Direktor gebracht. Sie kündigte an, er werde in einem halben Jahr gehen, weil er seine Karriere entwickeln wolle, und er habe sich die Wertschätzung aller, die mit ihm zusammengearbeitet hätten,  überaus verdient, den genauen Wortlaut habe ich aber nicht verstanden. Dann redete der Gewürdigte , und ich verstand etwas von Horizonterweiterung, nichts aber davon, was er eigentlich tun wolle. Da ich davon ausgehe, dass man einen solchen Schritt ankündigt, wenn man eine feste neue Stelle hat, wunderte ich mich ein wenig und sagte später scherzhaft zu Angelika, eingedenk der beiden Fälle, von denen Sie mir schon vor einiger Zeit berichtet hatte, man habe ihn wohl rausgeschmissen. Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass das die Wahrheit sei, wie ich am nächsten Tag erfuhr. Eine solche verlogene Situation habe ich in meinem ganzen Berufsleben nicht erfahren. Offenbar ging es auch dem Geschassten darum, unbedingt die Fassade zu bewahren, etwas, das ich aus dem japanischen Kulturkreis kenne und hier schon von den Vorderfronten vieler Häuser. Anschließend ging man, als wäre nichts gewesen, zur angekündigten Assembly, für mich der nächste Schock. Ich hatte angenommen, dass es sich um die harmlose Einberufung einer Jahrgangsstufe zu einem Vortrag handelt, wie das bei uns auch geschieht, war aber schon verwundert, dass es eine minutengenaue Planung gab, die der Präsentation unserer Schüler nur 10 Minuten vorgab. Wir packten unsere Rucksäcke, aber Sue nahm sie uns ab und meinte, so könnten wir nicht da rein gehen. Zunächst mussten wir warten und wurden den zwei Schulsprechern und einem Herrn vorgestellt, den ich für den eingeladenen Wissenschaftler hielt, von dem Sue gesprochen hatte. Dann wurden wir in der ersten Reihe auf mit Namensschildern versehenen Stühlen platziert. Was folgte, war eine Speechnight kleineren Formates. Wir wurden gebeten, aufzustehen und man sang ein christliches Lied. Anschließend lasen die Schulsprecher einige Sätze aus der Bibel vor, und der freundliche Wissenschaftler entpuppte sich als predigender Pfarrer. Jener, der einen Vortrag halten sollte, war ausgeladen worden, weil die oberste Chefin selbst anwesend war und sprechen wollte. Dies dauerte ungefähr eine Viertelstunde, dann wurden die Deutschen Gäste aufgefordert, ihre Präsentation zu halten. Es wurde sehr peinlich. Derselbe Junge, der am Vorbend nicht rechtzeitig angerufen hatte, suchte offenbar Anerkennung und wollte unbedingt die Einführung übernehmen. Angelika diktierte ihm dann zu diesem Zweck einen Text. Diesen trug er zwar vor, machte aber beim Abgang eine Geste, als erwarte er jetzt Applaus, was von der Zuhörerschaft mit eisigem Schweigen quittiert wurde. Die folgende „Präsentation“ bestand im Ablesen einiger Folien mit Jahreszahlen sowie Bildern von Schloss, Elisabethkirche und Spiegelslustturm. Langweiliger ging es eigentlich nicht mehr, der Zweck des Ganzen, Werbung für Marburg, die Schule und den Austausch zu machen, vollkommen vergeigt. Der Rest der Veranstaltung bestand aus Informationen der Chefin und Vorstellung des neu gebauten Internats und seiner Einrichtung. Die Chefin dankte für die schöne Präsentation der deutschen Schüler und zum Schluss mussten wir uns wieder erheben und die Nationalhymne wurde gesungen, danach zog der Lehrkörper unter Pianobegleitung eines Musiklehrers aus. Nur die Fahnen, die die ganze Zeit im Hintergrund standen, wurden nicht mitgenommen. Als wir an der Tür des geschassten Direktors vorbeikamen, dankte auch er für die exzellente Präsentation, da konnte Angelika nicht anders und reagierte als Norddeutsche mit der Bekundung, das sei alles andere als exzellent gewesen. Wir waren beide verärgert, aber Angelika fing sich bald wieder und kehrte zu gewohnter Professionalität zurück. Ich nicht so leicht, denn meine Peilung hatte sich als durchaus richtig für diese Veranstaltung erwiesen. Wesley hat ungeachtet der Tatsache, dass die Eltern über 20000 Dollar im Jahr oder noch mehr für einen Platz bezahlen müssen, kirchliche Wurzeln, da ist eine wöchentliche Kurzandacht in dieser Form verständlich. Ich selbst brauche sie nicht, respektiere sie aber als Zeichen einer Tradition, die ich als solche nicht ablehne. Etwas davon fehlt bei uns, es wird im Gegenteil alles getan, um keine aufkommen zu lassen, und Lehrer, die selbst schon kein Gefühl mehr dafür in ihrer Erziehung mitbekommen haben, können es auch an Schüler nicht weitergeben. Ich denke an den schönen Spruch der 68er: unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren. Laut Wikipedia war wohl das Tausendjährige Dritte Reich damit gemeint, aber der Spruch hat sich in gewisser Weise verselbständigt. Unsere Schüler werden darauf getrimmt, Fragen zu stellen, etwas kritisch auseinander zu nehmen, was ihre intellektuelle Selbständigkeit befördert. Das australische System setzt anscheinend mehr auf Hierarchie und Gehorsam, was sie aber auch befähigt, eine zugewiesene Rolle sicher auszufüllen. Die Paradoxie in der Assembly bestand darin, dass unsere Schüler sich gerade als unflexibel erwiesen und sklavisch an Präsentationsregeln hielten, die sie augenscheinlich bei uns am Philippinum gelernt haben, ein Offenbarungseid. Gleichzeitig beharrten sie starrsinnig auf ihrer individuellen Entscheidung und waren der Korrektur durch Lehrer nicht zugänglich. Sie glichen diesen Mangel aber am folgenden Tag wieder durch ihre persönliche Ausstrahlung aus. Beim allgemeinen Treffen sangen sie ihr Lied offenbar so emphatisch, dass einigen australischen Müttern die Tränen kamen. Diese Präsentation und Werbung war also ein Volltreffer. Ich selbst bekam davon gar nichts mit, denn ich hatte zuhause meine Brille vergessen und fingerte mich als Begleitender äußerst angestrengt durch ein vollkommen verschwommenes Notenbild. Ein mitleidiger Schüler überließ mir dann seine Brille, wodurch sich die Situation etwas verbesserte. Ohne Brille geht jetzt gar nichts mehr, die Zeichen des körperlichen Verfalls mehren sich, da kann man nur wenig machen.