Flug und 1.Tag

Ich sitze an Sue’s Küchentisch in Melbourne. Mein IPad ist eingerichtet und der Email-und Whatsapp-Verkehr nach Deutschland funktioniert einwandfrei. Wenn ich vor meiner Abreise eine Camera in meinem Haus installiert hätte, könnte ich auch in mein Wohnzimmer blicken oder sehen, wie sich der Rolladen meines Schlafzimmers hebt oder senkt, je nach dem, wie ich einen Regler in einer IPhone-App hier in Australien bediene. Was für eine faszinierende Technik! Vor 18 Jahren träumte man von Derartigem und ich erinnere mich noch genau, wie ich damals auf unserer Japantournee zu Akiko sagte, dass sie eines Tages ihre Arbeit über den Computer von jedem Ende der Welt aus machen könne. Jetzt kann ich von einem Küchentisch auf der anderen Seite der Erde das Layout für die nächste Chronika, die Jahresschrift der Ehemaligen des Philippinum, erstellen und mit meinem Redaktionskollegen in Marburg über Inhalte verhandeln.

Auf der anderen Seite der Erde: man sagt ja, dass die Seele ein paar Tage brauche, um den flugtechnisch bedingten Vorsprung des Körpers einzuholen. Ich kann es noch nicht fassen, dass ich 16000 km von meinem Haus und Garten entfernt bin, es fühlt sich an, als sei ich gerade mal zur befreundeten Nachbarin rübergegangen. Die Reise habe ich schon ausgeblendet, obwohl ich jetzt doch ein wenig Müdigkeit verspüre, meine Befürchtungen in Deutschland waren vollkommen unbegründet. Angelika, meine Kollegin, hatte einen großen zeitlichen Puffer zwischen unserer Abfahrt in Marburg und der Ankunft in Frankfurt gelegt, den ich für übertrieben hielt. Allerdings zeigte sie damit große Voraussicht, denn auf der Wetterau streifte plötzlich ein von links vor uns sich einordnender DHL-Lieferwagen unseren Bus und zerstörte den Außenspiegel. Für mich, der ich hinter dem Busfahrer saß, war der Sachverhalt klar, aber der DHL-Fahrer sah sich wohl im Recht, sodass nach längerem Hin und Her und der Handydokumentation der Schäden an beiden Fahrzeugen die Polizei angerufen wurde, die eine Weile brauchte, so dass sicher eine Stunde insgesamt verstrich.

Wir kamen trotzdem ausreichend früh am Flughafen an und durchliefen die einzelnen Stationen problemlos. Leider war das Flugzeug, ein Airbus 380 mit Zehnersitzreihen, rappelvoll und die Schüler überall verteilt, sodass Angelika etwas rangieren musste, um eine vereinzelt gebliebene Schülerin in unsere Nähe zu holen. Anschließend holte sie einen Stapel Arbeiten heraus und bekann zu korrigieren, für mich ein unglaublicher Vorgang, soviel Disziplin und Konzentration habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht aufgebracht. Ich tat das für meine Verhältnisse sinnvollste, was sich in einer derartigen Situation machen lässt, essen und schlafen. Damit senkte sich auch ein unsichtbarer eiserner Vorhang zwischen mir und der Umgebung, der mich, unterstützt von ein paar Kissen und einem Nackenhörnchen, relativ immun gegen die beengten Verhältnisse machte, und nur ein paar schnarchende Atemzüge eines Flugnachbarn aus der sonst unbeachteten Unruhe merkwürdig störend hervorstechen ließ. Ich hatte den Eindruck einer großen Gemeinschaftszelle irgendeines Gefängnisses, die sich zwar theoretisch fast mit Schallgeschwindigkeit bewegte, von deren Schubkraft man aber selbst beim Start so gut wie nichts bemerkte. Einen Teil der Zeit vertrieb ich mir mit einem Spielfilm mit George Clooney. Angelika hatte von ihm gehört und empfohlen. Sie sah ihn etwa um zwei Minuten zeitversetzt, sodass sich meine Reaktionen, wenn es sich um Lacher wegen eines witzigen Dialoges handelte, wie in einem riesigen Echo verdoppelten. Der Film heißt Moneymonster und es geht um die Raffgier im Aktienmarkt. Gleichzeitig bekommt man einen guten Einblick in die Mechanismen und Eigenarten des Live-Fernsehjournalismus und seiner irrsinnigen Reaktionsgeschwindigkeit, die mir bisher völlig unklar waren.

So kamen wir alle guter Dinge in Bangkok an und nutzen die eineinhalb Stunden Aufenthalt dazu, uns die Beine zu vertreten. Ebenso verhielt ich mich im zweiten Abschnitt, mit dem Unterschied, dass in diesem Flugzeug die Bildschirme nicht überall funktionierten und ich auf die Filmauswahl eines schräg vor mir sitzenden Passagiers angewiesen war. Ohne Ton war dies aber eine höchst unbefriedigende Beschäftigung, die ich bald wieder aufgab. Als optisch orientierter Mensch glaubte ich ja bis dahin, dass ich eher auf das Ohr als das Auge verzichten könnte, und wurde hier eines Besseren belehrt. Rasante Schnittfolgen machten es unmöglich, irgendeinen Sinn zu erkennen, und ich hätte vermutlich mehr davon gehabt, wenn ich nur den Ton gehört hätte, der den Drehbuchschreiber in den Vordergrund hebt. Diese werden in ihrer Bedeutung im Gegensatz zu Regisseur und Schauspielern viel zu wenig beachtet, finde ich, man denke nur an ihre Erwähnung im Abspann. Es sei denn, man schaue sich Streifen mit Arnold Schwarzenegger oder anderem Actionhelden an. Hier spielt die Sprache wohl keine Rolle, allerdings wirken auch diese Filme schwach, fehlt das Geräusch, mit dem die Faust aufs Auge trifft.

Kurz vor Ankunft in Melbourne sah ich mich gegen meine Art gezwungen,  eine mir wegen des vielen Essens noch verbliebene Banane und ein gekochtes Ei, die ich nicht in meiner Küche verschimmeln lassen wollte, doch noch unter dem Sitz schamhaft zu entsorgen. Die Einreisebestimmungen sind in Australien sehr streng, eine eingeschweißte hessische Wurst, die eine gut meinende Schülerin als Notvorrat oder Gastgeschenk mitgebracht hatte, durfte den Flughafen nicht mehr verlassen. Sue, die mich dort begrüßte, war ganz erstaunt über meine gute Verfassung. Sie nahm mich mit nach Hause und wir hatten uns so viel zu erzählen, dass wir bei einer Flasche Rotwein noch bis weit nach Mitternacht durchhielten.

Das erste, was ich am nächsten Morgen wahrnahm, waren die seltsamen Vogelstimmen. Ein Vogel, sogenannter Magpie, klingt für mich wie jemand, der Maultrommel spielt. Schon vor Jahren hatte mir Sue einen Kalender mit australischen Vögeln geschickt und ich war auf das Aussehen etwas vorbereitet, nicht aber auf die merkwürdigen Töne. Später führte mir Sue auf YouTube besonders den Lyravogel vor, der seinen Namen nach dem wunderbar geformten Schwanz erhalten hat. Er kann circa 20 verschiedene Vogelrufe nachahmen und, besonders witzig, das Klicken und Transportieren einer analogen Camera oder die Sirene eines Polizeiautos oder die Geräusche von Akkuschrauber und Säge, unglaublich, wenn man es nicht gehört hat. Nach dem Frühstück machten wir unsere Aufwartung bei den Nachbarn von Sue, denen sie Bilder von meinem Garten gezeigt hatte und die mich unbedingt als „Gartensachverständigen“ kennenlernen wollten. Ich hatte ein mulmiges Gefühl wegen der Verständigung, aber ich benutzte dieselbe Technik wie bei meinen amerikanischen Verwandten: Reden lassen und freundlich zustimmend nicken, ab und zu ein Wort einwerfen. Das führt zwangsläufig dazu, dass man als gut sprechender Ausländer angesehen wird. Sues Nachbarn, die auch Sue’s Garten mitversorgen, wenn sie keine Zeit dazu hat, sind außerordentlich nett und wir werden sie noch besuchen, denn sie wollen mir die wilden Papageien in ihrem Garten zeigen.

Anschließend machten wir einen Spaziergang durch das sehr schöne Viertel, in dem Sue wohnt. Lauter Einfamilienhäuser mit zu dieser Zeit wunderbar blühenden Vorgärten, ich fühlte mich an Portugal im Frühling erinnert. Die Häuser sind aber allesamt leichtgewichtiger als in Deutschland. Sue spricht etwas abfällig von Matchstick-Häusern, und tatsächlich sieht ein Rohbau wirklich so aus. Vor dieses Gerüst wird eine Lage Backsteine gesetzt und die Innenwände bestehen mehr oder weniger aus Pappe. Ältere Häuser aus dem 19. Jhdt. sind natürlich massiver, aber selbst diejenigen neuen, die diesen Stil imitieren, sind auf diese leichte Art gebaut.

Um mich mit Angelika hier kostengünstig zu verständigen, kaufte ich dann mit Sue’s Hilfe eine SIM-Karte für mein altes Handy und eine Packung Shampoo. Im Supermarkt eine neue Erfahrung: Die Geldscheine, die ich aus dem Automaten gezogen hatte, sind aus Plastik und teilweise durchsichtig. Kassierer gibt es keine mehr, man muss selbst einscannen, einen Geldschein (oder die Kreditkarte) für den angezeigten Betrag in einen Schlitz stecken und warten, dass man das Wechselgeld ausgezahlt bekommt. Da ich das nicht sofort überblickte und es selbst für Sue neu war, warteten wir ziemlich lange und wollten uns gerade beschweren, als ich im unteren Teil des Automaten eine Schale mit dem Wechselgeld entdeckte. Ich bin gespannt, wann ich auf eine solche Lösung zum ersten Mal in Deutschland stoße, kann mir gar nicht vorstellen, ob das bei uns auch funktioniert.

Abends kam Sue’s Freund Simon zum Essen, und hier erlebte ich, wovor mich alle gewarnt hatten, er war kaum zu verstehen in seinem australischen Akzent. Zunächst hoffte ich, das Gespräch auf französisch weiterzuführen, aber auch das scheiterte an meinen vergessenen Kenntnissen, schließlich gewöhnte ich mich ein bisschen an die Aussprache und den Rest besorgte Sue mit ihren hervorragenden Sprachkenntnissen. Wir sprachen über alles Mögliche, auch Historisches. Ich erzählte etwas über unsere Schule und die Anfänge mit Philipp dem Großmütigen, da erwähnte er „hessian bags“, das sind Tragetaschen aus grober Jute. Ich hatte eine Vermutung, wie es zu diesem Ausdruck kam und wir beschlossen, Mr. Google zu Rate zu ziehen, wie Simon und Sue die Websuche scherzhaft bezeichnen. Tatsächlich bezieht sich eine Ableitung auf die armselige Kleidung der unglücklichen Untertanen, die von einem späteren hessischen Landgrafen als Soldaten verkauft wurden. (The name „hessian“ is attributed to the use of the fabric, initially, as part of the uniform of soldiers from the former Landgraviate of Hesse and its successors in interest (including the current German state of Hesse[7]), whose people (and thus soldiers) were called „Hessians.“

Eigentlich sollte jeder Hesse im Ausland einen solchen Bag als Gastgeschenk mitbringen als Zeichen seines Bewusstseins von grüner Gesinnung und historischem Wissen.

 

 

3 Comments

  1. Dieter Gabrian

    Roland, gerade hatte ich dich in einer Mail, die sich hauptsächlich auf die Arbeit an der Ehemaligen-Homepage bezog, noch gefragt, wie es denn so sei in down-under. Quasi zeitgleich erreichte mich dieser Blog. Ein kommunikationstechnischer Durchbruch, eine tolle Möglichkeit, ein wenig „mitzureisen“, zusammen mit den eingefügten Fotos faszinierender als die von deinen anderen Reisen schon interessanten Email-Berichte. Dieter G.

  2. Birgit Klagholz

    Danke, Roland! Ich freue mich schon auf die weiteren Berichte von Dir. Vielleicht gibt’s ja noch einige Aufnahmen der Vogelstimmen. Hier hat es tatsächlich geregnet (20mm gestern und vorgestern), und jetzt wird es wirklich Herbst.
    LG vom Roten Hof von Birgit

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